Wald im Märchen

Wald im Märchen


Der Beitrag als Podcast


Dieser Beitrag handelt von finsteren Waldlandschaften, von Wäldern, in denen knorrige Bäume mit ihren düsteren Ästen schwarz in den Himmel greifen. Dort, wo Sie nur ihren eigenen Herzschlag hören werden und kein gutes Getier jemals seinen Weg hin verlieren würde. Dort, wo untreues Gesindel wohnt zusammen mit Räubern, Zauberern und Hexen. Dort, wo man noch Teufel und Zwerge findet, zuweilen aber auch auf Feen und weise Frauen trifft. Es geht um den Wald im Märchen.

Magische Gestalten und dunkle Gesellen

Haben Sie als Kind Märchen vorgelesen bekommen, oder lesen Sie vielleicht selbst ihren Kindern oder Enkeln ab und zu Märchen vor? Zugegeben, nicht jedes Märchen entspricht den Kriterien des Kinder- und Jugendschutzes. Da überfallen Räuber unschuldige Wanderer. Lauern Riesen mordlustig auf ihre Beute. Oder denken Sie an das Männlein, das am Feuer tanzt und einer Königin ihr Kind rauben will:

„Den dritten Tag kam der Bote wieder zurück und erzählte: „Neue Namen habe ich keinen einzigen finden können, aber wie ich an einen hohen Berg um die Waldecke kam, wo Fuchs und Has sich gute Nacht sagen, so sah ich da ein kleines Haus, und vor dem Haus brannte ein Feuer, und um das Feuer sprang ein gar zu lächerliches Männchen, hüpfte auf einem Bein und schrie:

                „Heute back ich,
                Morgen brau ich,
                Übermorgen hol ich der Königin ihr Kind;
                Ach, wie gut ist, daß niemand weiß,
                daß ich Rumpelstilzchen heiß!“

                (Märchen Rumpelstilzchen, Gebrüder Grimm)

Zudem sind hinterlistige Wölfe unterwegs und verschlingen arme Mädchen mit roter Mütze. Aber das ist nicht das einzige grausame Getier: Drachen, Bären, wilde Eber, Einhörner und vieles mehr behausen die Märchen beispielsweise der Gebrüder Grimm. Nicht Kinderfreundlich? Kein Wunder:  Die Märchen waren ursprünglich nicht für Kinder gedacht, sondern für Erwachsene. Vielleicht ist Ihnen beim Lesen etwas aufgefallen? Das Hauptlandschaftselement in vielen Märchen ist der Wald. Hierbei handelt es sich um keinen Zufall, vielmehr erfüllt der Wald im Märchen einen tiefen psychologischen Zweck.

Wald der magischen Gestalten


Märchen: Spiegel der Zeit

Um die Hintergründe besser zu verstehen, ist es sinnvoll das Thema Märchen zunächst ganz allgemein zu untersuchen. Ursprünglich wurden Märchen mündlich überliefert und von Mund zu Mund, von Dorf zu Dorf weitergegeben. In den Märchen spiegeln sich oft die Verhältnisse eines Landes und in der Gesellschaft wider. So finden sich Arm und Reich, Könige und Bauern, Soldaten und Handwerksberufe. Daneben zeigen sie über fabelhafte Wesen den Aberglauben und die Fantasie der Bevölkerung auf: Hexen (z.B. Jorinde und Joringel),  Einhörner (z.B. Das tapfere Schneiderlein), sprechende Tiere (z.B. Die zwei Brüder), Zwerge (z.B. Schneeweißchen und Rosenrot) und Riesen (z.B. Die Rabe), Teufel (z.B. Der Teufel und seine Großmutter) oder himmlische Mächte (z.B. Sterntaler) beleben die Erzählungen. Vor allem findet man aber den Gegensatz von Gut und Böse. Märchen vermitteln dabei eine eigene Moralvorstellung, sie zeigen, wie die Welt aus Sicht der damaligen Bevölkerung eigentlich sein sollte. Die meisten Märchen gehen dabei gut aus: „und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage“. Für manche Märchen gilt, sie enden zwar tragisch, doch es endet so, wie sich die Leute zu dieser Zeit vorgestellt haben, dass die jeweilige Geschichte aus moralischen Gesichtspunkten enden sollte.

Sammlung „deutschen“ Kulturguts

Besonders die Gebrüder Grimm sind bekannt dafür, dass Sie die zahlreichen Geschichten, die Anfang des 19. Jahrhundert kursierten, sammelten und zusammenfassten. Ab 1806 begannen die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm motiviert durch frühere Bemühungen berühmter Dichter dieser Zeit mit dem Sammeln der Märchen. Vorbilder warenbeispielsweise Clemens Brentano und Achim von Arnim, die mit „Des Knaben Wunderhorn“ in drei Bänden Volkslieder zusammentrugen und veröffentlichten (1805 – 1808). 1812 erschien die erste Grimm‘sche Märchensammlung mit 86 Märchen, bis 1815 wuchs die Sammlung auf über 200 so genannte „Kinder und Hausmärchen“. Dabei waren die Märchen ursprünglich nicht als Einschlafgeschichten für Kinder gedacht waren. Auf Anregung durch Clemens Brentano wollten Jacob und Wilhelm Grimm vielmehr deutsches Kulturgut zusammenführen und sichern. Das wissenschaftlichen Interesse und Bestreben stand dabei klar im Vordergrund. Dass ein Teil der Geschichten eigentlich seinen Ursprung in Frankreich hat, wurde dabei eher zurückgehalten und stört heute, mehr als 200 Jahren nach Napoleon niemanden mehr.

Neben den Gebrüdern Grimm veröffentlichten zudem andere Autoren wie Wilhelm Hauff, E.T.A. Hoffmann, Hans Christian Andersen oder Clemens Brentano Märchen und fabelhafte Erzählungen. Hierbei handelt es sich vor allem um Kunstmärchen, also Geschichten, die  vor allem der Feder und Fantasie der Autoren entsprungen ist. In diesem Beitrag werden vor allem Beispiele aus den Märchen der Gebrüder Grimm  der Waldseiten werden Sie als Beispiele jetzt vorwiegend die Geschichten der Gebrüder Grimm hören, vielleicht kommt ihnen aber auch das eine oder andere dieser Kunstmärchen in den Sinn.

(Un-)Gezähmte Waldlandschaften

Die Hochphase dieser Märchen, sowohl der Märchensammlungen, als auch der Kunstmärchen ist die Zeit der Romantik. Die Romantik prägte die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts und dauerte in ihrer Kernzeit von 1804 – 1835. Um die Rolle des Waldes in den Märchen zu verstehen, müssen wir einen Blick auf die Wälder der Romantik werfen und auf die Zeit davor. Beginnen wir in der Jungsteinzeit. Wälder beherrschen das, was später einmal Deutschland genannt werden wird. Die Menschen dieser Zeit werden langsam aber sicher sesshaft und beginnen Wälder zu roden, um dort Ackerbau zu betreiben. Sie haben es in der letzten Folge schon einmal gehört, in diese Zeit fällt auch der Siegeszug der Buche, die sich immer stärker ausbreitete. Die Wälder vieler darauf folgender Jahrhunderte wurden zwar allmählich von den Menschen gezähmt, waren jedoch immer noch ein Stück Wildnis. Wilde Tiere bewohnten die Wälder, Bären oder Wölfe. Rotkäppchen hatte damals noch gute Chancen einem wilden Wolf zu begegnen. Gesetzlose fanden in den Wäldern Unterschlupf und lockten Reisende, wie etwa im Märchen „Das Wirtshaus im Spessart“ in ihren Hinterhalt.

Im Wald, da sind die Räuber

Alleine die durchgehenden Waldflächen hatten ganz andere Dimensionen als heute, wie bei „Hänsel und Gretel“ halfen da Brotkrumen eher weniger bei der Orientierung. Kurz gesagt, die Wälder konnten einem da schon ein wenig Angst machen. Aber die Wälder waren auch wichtige Rohstofflieferanten. Die Bauern trieben ihr Vieh in den Wald und sammelten Waldstreu. Köhler gingen ihrem Handwerk nach und vor allem Holz wurde benötigt. Die Epoche der Romantik fällt auf die Zeit der beginnenden Industrialisierung. Die Städte wuchsen, die Wirtschaft boomte immer mehr und für alles das wurde Holz benötigt. Bereits seit dem Mittelalter waren die Wälder in einem starken Rückgang begriffen – Grund hierfür waren der starke Holzhunger für  Städtebau, Brennholz, die Erzgewinnung oder anderenorts Salzabbau. Bei den Verantwortlichen schrillten bald alle Alarmglocken, wenn sie auf die großflächigen Entwaldungen aufmerksam wurden, man begann umsichtiger mit den Wäldern umzugehen. 1713 hatte Hans Carl von Carlowitz in seinem Werk „Silvicultura Oekonomica“ dargestellt, wie die Wälder zu bewirtschaften seien, dass auch kommende Generationen noch vom Wald leben könnten. Die Wälder waren zur Zeit der Romantik also weniger geworden und mit dem Verlust des grünen Naturraums begann ihre Romantisierung.

Wald als romantische Gegenwelt

Eine Volksweisheit lautet: „Man weiß erst was man hatte, wen man es verloren hat.“ Und genau das lief nun in der Epoche der Romantik ab. Während gerade in den Städten alles industrieller, grauer und technischer wurde, suchte die intellektuelle Elite nach einem Gegenpol. Der Wald als grüner, scheinbar wilder, ungezähmter und ungeordneter Naturraum ergab die perfekte Gegenwelt zur Stadt. Geht es in der Stadt geordnet und rational zu, herrscht im Wald Unordnung und Unberechenbarkeit. Und so kommt es, dass der Wald zu einem der Seelenorte der deutschen Romantik wurde. Der berühmte Maler der Romantik „Caspar David Friedrichs“ wählte immer wieder den Wald als Motiv für seine Werke (z.B. „Wald im Spätherbst“, „Kreuz im Wald“, „Der Chasseur im Walde“). In dem Buch „Die Judenbuche“ von Annette von Droste-Hülshoff wird der Wald zum Tatort eines grausamen Kriminalfalls. Josef von Eichendorff, Ludwig Uhland, Theodor Storm und verschiedene andere Dichter nutzen den Wald, um Gedanken und Seelenleben in Versform zu fassen.

Nur eine Stunde im grünen Wald,
Nur eine einzige Stunde!
Auf dem schwellenden Rasen umhaucht von Düften,
Gekühlt von den reinen balsamischen Lüften,
Wo von ferne leise das Echo schallt,
Nur eine Stunde im grünen Wald!

Auguste Kurs (1815 – 1892) – Nur eine Stunde im grünen Wald

Caspar David Friedrich: Waldinneres bei Mondschein
Quelle: Wikipedia

Seelen-Wälder

Seelenleben ist genau das Stichwort, das auf die Märchen überleitet. Der Wald ist im Märchen einerseits eine schaurig-schöne Kulisse, in der die Urängste des Mittelalters weiterleben. Die Fabelwesen aus den mittelalterlichen Vorstellungen der Bevölkerung lassen grüßen und tanzen hier wie Rumpelstilzchen im Wald ums Feuer. In „Brüderchen und Schwesterchen“ verwandeln verwunschene Waldbäche jeden, der daraus trinkt in wilde Tiere. Eine Art deutscher, sehr finsterer Dschini tritt im Märchen der „Geist aus im Glas“ im Wald ans Tageslicht. „Das blaue Licht“ oder „Jorinde und Joringel“ sind Beispiele für Waldhexen. Hier aus „Jorinde und Joringel“:

„Damit sie nun einsmalen vertraut zusammen reden könnten, gingen sie in den Wald spazieren. „Hüte dich,“ sagte Joringel, „daß du nicht so nahe ans Schloß kommst.“

Es passiert, wie es passieren muss, Jorinde hört nicht auf Joringel und dieser muss mitansehen, wie seine Liebste verzaubert wird:

„Eine Nachteule mit glühenden Augen flog dreimal um sie herum und schrie dreimal schu, hu, hu, hu. Joringel konnte sich nicht regen. Er stand da wie ein Stein, konnte nicht weinen, nicht reden, nicht Hand noch Fuß regen. Nun war die Sonne unter; die Eule flog in einen Strauch, und gleich darauf kam eine alte krumme Frau aus diesem hervor, gelb und mager: große rote Augen, krumme Nase, die mit der Spitze ans Kinn reichte. Sie murmelte, fing die Nachtigall und trug sie auf der Hand fort.“

Andererseits spielen die Wälder im Märchen eine größere Rolle. Wer in den Wald hineingeht, kommt als anderer Mensch heraus. Der Wald dient als Symbol unterbewusster Prozesse in der menschlichen Psyche.  Im Märchen ist es meistens der Wald, in dem zwischen Erfolg oder Niederlage des Hauptakteurs entschieden wird. Im Wald müssen sich die Helden unserer Märchen oft Gefahren und Herausforderungen stellen. Wenn Sie jedoch herauskommen hat eine Wandlung stattgefunden, die Protagonisten sind erst jetzt wahre Helden oder haben ihren Charakter entwickelt und ihre wahre Bestimmung erreicht. Im Wald treffen unsere Heldinnen und Helden auf so genannte Archetypen. Archetypen, das sind unterbewusste Urbilder für Verhaltensweisen oder Daseinsformen.

Archetypen

Der Psychiater Carl Gustav Jung definierte Anfang des letzten Jahrhunderts zwölf „Archetypen“ die quasi von Geburt an jeder von uns in seinem Unterbewusstsein mit sich trägt und versteht: Um ein paar dieser 12 Archetypen zu nennen: Da wären „der Weise“, „der Herrscher“, „der Magier“, „der Narr“ oder „die Waise“. Fällt Ihnen etwas auf? All diese Figuren kommen im Märchen vor und damit auch im Wald als Ort der Fantasien und Projektionen der menschlichen Psyche.

In Märchenwäldern verbergen sich oft Gefahren und Schrecken

In der Regel sind die Märchenhelden auf der Suche nach etwas. Diese Suche führt sie in den Wald. Dort treffen Sie auf ein Hindernis oder eine oder sogar mehrere Gefahren (wie eine Hexe bei Hänsel und Gretel, den Wolf in Rotkäppchen).

„Die Großmutter aber wohnte draußen im Wald, eine halbe Stunde vorm Dorf. Wie nun Rotkäppchen in den Wald kam, begegnete ihm der Wolf“

Naja und der wiederum hat Rotkäppchen zum Fressen gern. Gott sei Dank gibt es da noch die Helfer, sozusagen die „Gute Fee“. Dieser Helfer muss aber nicht überirdisch sein, oft genug ist es einfach ein Mensch (wie zum Beispiel in Schneewittchen den Jäger, der die Prinzessin ziehen lässt).

„Da rief die böse Königin einen Jäger und sprach: „Bring das Kind hinaus in den Wald, ich will’s nicht mehr vor meinen Augen sehen. Du sollst es töten und mir Lunge und Leber zum Wahrzeichen mitbringen.“ Der Jäger gehorchte und führte es hinaus, und als er den Hirschfänger gezogen hatte und Schneewittchens unschuldiges Herz durchbohren wollte, fing es an zu weinen und sprach: „Ach, lieber Jäger, laß mir mein Leben! Ich will in den wilden Wald laufen und nimmermehr wieder heimkommen.“ Und weil es gar so schön war, hatte der Jäger Mitleiden und sprach: „So lauf hin, du armes Kind!“

Dieser Helfer hat im Prinzip eine Doppelrolle als Häscher und Helfer zu gleich, aber im Großen und Ganzen hilft er Schneewittchen. Wenn der Held – in diesem Fall Schneewittchen – den Wald verlässt steht ihm oder ihr ein neues Leben bevor.

Wir haben vorher kurz das Thema Archetypen angeschnitten. Der Wald selbst ist auch so ein archetypischer Ort in dem sich die unterbewussten Ängste spiegeln und in den Märchen sichtbar gemacht werden.

Der Wald ist aber nicht immer nur ein Raum der Gefahren. In einigen Märchen wird der Wald zum Zufluchtsort. Etwa in Sterntaler sucht das Mädchen im Wald Zuflucht, als es alles, was es hat gespendet hat.

„Endlich gelangte es in einen Wald und es war schon dunkel geworden. Da kam noch ein Kind und bat um ein Hemdlein“

 In Allerleirau flieht die Prinzessin vor ihrem Vater in den Wald und verbirgt sich dort in einem hohlen Baum. Der Wald gibt hier Sicherheit und Unterschlupf.

„ Dann befahl sie sich Gott und ging fort und ging die ganze Nach, bis sie in einen großen Wald kam. Und weil sie müde war, setzte sie sich in einen hohlen Baum und schlief ein“

Im Märchenwald findet sich also sowohl Bedrohung, als auch Geborgenheit, vor allem aber ein Prozess der Wandlung, all die Facetten mit denen unser Unterbewusstsein sich auseinandersetzten muss. Der Wald ist im Märchen, das Spiegelbild des menschlichen Seelenlebens.

Märchenwälder

Die Märchen prägen bis heute unsere Vorstellungen vom Wald. Ein wenig geheimnisvoll ist Ihnen sicherlich auch schon mal ein Wald vorgekommen. Da gibt es Wälder, deren Bild auf uns düster und verwunschen wirkt. Abgestorbene Bäume unterstützen diese Wirkung. Fast wartet man darauf, dass hinter der nächsten Ecke das Räuberhaus aus den „Bremer Stadtmusikanten“ auf einen wartet oder das Hexenhaus „Hänsel und Gretel“. Oder sie stehen in einem hellen, hallenartigen Laubbestand. Dort in Mitten des Lichterspiels aus rauschender Blätter fühlen Sie sich vielleicht geborgen. Auf alle Fälle kehren auch Sie heute verwandelt von einem Waldbesuch zurück. Denn der Wald spiegelt nicht nur im Märchen Seelenlandschaften wieder, er wirkt sich auch aktiv auf unsere Seelenleben aus. Der Wald ist nach wie vor ein Sehnsuchtsraum, ein Naturraum, der für uns einen Gegenpol schafft zum industriellen, grauen und technischen Alltag. Kommt Ihnen das bekannt vor? Das hatten wir zu Beginn dieses Podcasts, als wir vom Wald der Romantik gesprochen haben. Viel hat sich in dieser Hinsicht nicht geändert. Egal ob im Märchen oder der Realität wir sind genauso wie vor zweihundert Jahren dem Wald verbunden, wir sind moderne Waldromantiker.

Quellen

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